In der Sonntagszeitung vom 7.10.2012 wird berichet, dass die Nagra die möglichen Lagerstandorte womöglich schon bestimmt hat.
Vollständiger Bericht von Catherine Boss und Oliver Zihlmann:
Bern Die interne Aktennotiz trägt das Zeichen AN11-711, sie datiert vom 18. November 2011, Titel: «Explorationsplanung». Auf Seite 13 steht der Vermerk «vertraulich». Im Dokument skizziert die Nagra eine Strategie der nächsten Jahre für die Suche nach einem Lagerort für den radioaktiven Abfall. Das 20-seitige, mit Hunderten von Details bestückte Dokument wirft viele Fragen auf.
Zurzeit stehen sechs Standorte zur Auswahl. Sie alle seien für ein Lager geeignet, bestimmten die Nagra und der Bundesrat vor einem Jahr. Jetzt sollen die Gebiete aufwendig untersucht werden, worauf der Bundesrat frühestens 2014 zwei Standorte von der Liste streichen wird. Doch das vertrauliche Papier der Nagra zeigt ein anderes Bild. Unter dem Titel «Rahmenannahmen» nimmt die Nagra in ihrem Szenario den künftigen Beschluss des Bundesrates bereits vorweg. Auf Seite 10 steht: Exploration an 4 Standort-Gebieten, BR Entscheid». BR steht für Bundesratsentscheid. Die vier Standorte werden mit Namen genannt. Es handelt sich um das Gebiet Zürich Nordost, Südranden in Schaffhausen, Jura-Ost mit dem Bözberg und die Region Nördlich Lägern (siehe Grafik). Die beiden Regionen Wellenberg (NW/OW) und Jurasüdfuss (AG/SO) hingegen fehlen, sie kommen im ganzen Dokument mit keinem Wort vor.
Planungsszenario für Lager in Zürich Nordost und Jura-Ost
Trotzdem halten dort örtliche Komitees seit Monaten Sitzungen ab, um mögliche Plätze für Oberflächenanlagen zu diskutieren. Für diese Verfahren werden bis 2016 jährlich pro Standort über eine Million Franken verbraucht – die Aufwendungen der Nagra und der Bundesbehörden nicht eingerechnet. Dies bezahlen die Schweizer mit ihrer Stromrechnung; die Nagra ist von den Energiekonzernen finanziert.
Auf Seite 13, die den Vermerk «vertraulich» trägt, geht es um ein detailliertes Planungsszenario bis zum Bau zweier Lager; eines für hoch radioaktive Abfälle und eines für schwach- und mittelaktiven Atommüll. Das Nagra-Dokument zeigt, dass laut «Bohrprogramm» die Untersuchung der Standorte Nördlich Lägern (AG/ZH) und Südranden (SH) nach ein paar Bohrungen gestoppt werden soll. Auf dem Plan ist dies mit einem Stopp-Zeichen dargestellt. Für den Standort Zürich Nordost soll hingegen nach weiteren Bohrungen ein Rahmenbewilligungsgesuch für ein Lager für hoch radioaktiven Abfall eingereicht werden. Im Jura-Ost (AG) zeigt die Folie ebenfalls ein Bewilligungsgesuch für ein Lager für schwach- und mittelaktive Abfälle.
Völlig überraschend wäre dieses Resultat nicht. Benken im Zürcher Weinland ist das bisher am besten untersuchte Gebiet und gilt unter Geologen als Favorit. Und in der Region Jura-Ost ist kein Widerstand gegen ein Lager erkennbar. Zudem befindet sich in der Nähe das Zwischenlager Würenlingen. Dort lagert zurzeit der Abfall – der Verfrachtungsweg wäre kurz. Das spart Kosten und ist aus Sicherheitsgründen von Vorteil.
Die Nagra erklärt, die Aktennotiz habe keine detaillierte Planung zum Inhalt, sie sei lediglich ein modellhafter Ablauf mit hypothetischen Resultaten. Es gehe um eine Zeit- und Kostenabschätzung. «Konkrete Kosten lassen sich nur anhand von konkreten Szenarien an konkreten Orten ermitteln», schreibt sie. Auch wenn der skizzierte Ablauf theoretisch denkbar sei, seien «selbstverständlich auch ganz andere Szenarien möglich». Die Nagra plante, dieses Dokument den Bundesbehörden und der Öffentlichkeit als reines Modell zu zeigen, also ohne konkrete Namen der Standorte – «um Fehlinterpretationen zu vermeiden». Die SonntagsZeitung stellt das Dokument sowie die Argumente der Nagra ins Internet.
«Es geht um die Identifizierung geeigneter Standorte»
Die SonntagsZeitung hat ferner fünf unabhängige Geologen konsultiert. Sie wollte wissen, ob es sich bei dem Dokument tatsächlich um ein rein hypothetisches Modell zur Kostenabschätzung handelt oder um ein wahrscheinliches Szenario. In diesem Fall wäre die Unvoreingenommenheit der Nagra infrage gestellt.
Die Kostenabschätzung sei kein primäres Ziel dieses Dokuments, meint der deutsche Wissenschaftler Gerhard Schmidt vom Öko-Institut in Darmstadt. «Es geht, soweit ich es sehe, um die Identifizierung geeigneter Standorte und den Ausschluss weniger geeigneter Standorte». Iwan Stössel, im Kanton Schaffhausen zuständiger Geologe für das Dossier Tiefenlager, sagt: «Das Szenario in diesem Dokument scheint genau das abzubilden, wie wir die Nagra in der Realität erleben; der Prozess wird nicht so ergebnisoffen geführt, wie das unserer Ansicht nach sein müsste.» Drei weitere Experten für Explorationen wollten nur anonym eine Analyse abgeben. Das Thema ist für sie ein zu heisses Eisen. Sie sagen:
- Bei einem Modell nenne man die Standorte üblicherweise nicht mit Namen, sondern mit Platzhaltern wie A, B, C. Durch Benennungen wie ZNO für Zürich Nord werde aus einem Modell ein konkreter Plan.
- Durch die Tatsache, dass gerade die Bohrplanung als «vertraulich» klassifiziert wurde, dränge sich der Verdacht auf, dass hier eine detaillierte Planung vorliege und die «Stopp»-Zeichen gesetzt wurden, um ein Budget einzuhalten.
- In Zürich Nordost lägen die bisher detailliertesten Messergebnisse vor. Dass gerade dort ein Tiefenlager geplant sei, erscheine kaum als Zufall.
- Verständnis für das Vorgehen der Nagra zeigt dieser Wissenschafter: Die im Papier aufgezeichneten «Rahmenannahmen» erachte er als mögliche und wahrscheinliche Annahme für die weitere Planung. «Dies ist ein bei solchen langfristigen und auf vielen Unsicherheiten beruhenden Planungen wohl zweckmässig».
Das Dokument sorgt bereits für Aufruhr. Das Bundesamt für Energie hat in den letzten Tagen vom Strategiepapier Kenntnis erhalten und hat von der Nagra Erklärung verlangt.
Aktennotiz der Nagra
Stellungsnahme der Nagra