Glattgedanken, 10. Nov. 2011
Tag X – 3: Ich marschiere vom Verkehrskreisel her auf die alte Dorfstrasse, deren Asphaltband ganz langsam von der Natur zurückerobert wird, und werde auf leuchtend grüngelbe Punkte aufmerksam. Sie zieren die Strassenmitte, sind fortlaufend nummeriert und liegen etwa zehn Meter auseinander. Ob da eine Schulklasse das metrische System anschaulich vermittelt bekam? Spätestens nach weiteren zehn Marken muss ich einsehen: Auf eine solche Länge würde das keinen Sinn machen. Mysteriös!
Tag X – 2: Ich komme abends vom Einkaufen die Staltigstrasse aufwärts. Ein Kleinlaster mit deutschen Kontrollschildern fährt rechts halb aufs Trottoir und hält an. Zwei Männer in Leuchtwesten springen heraus, machen sich hinter dem Fahrzeug zu schaffen, haben es eilig. Was tun die denn hier beim Eindunkeln? Das Fahrzeug ist bald wieder weg und auf dem Gehsteig liegen jetzt alle paar Meter lange Säcke, wie man sie beim Campieren für Zeltstangen benutzt. Mysteriös!
Tag X – 1: Auf dem Weg zum Bus fallen mir viele Kabel auf, die alle am Vortag noch nicht da waren. Sie scheinen hastig und unordentlich verlegt, hängen vielfach über Gartenzäune, verlaufen quer über Vorplätze, enden in langen Steckdosenschienen. Es macht den Eindruck, als seien alle Liegenschaften östlich der Staltigstrasse miteinander verkabelt. Wird das ganze Quartier in die Luft gesprengt? Actiongeschädigt sucht mein Auge die viereckige Kiste mit dem T-förmigen Hebel. Vergeblich. Mysteriös!
Tag X: Ich sitze mit meiner Tochter spät am Frühstück, vernehme seltsamen Lärm. Plötzlich fibriert der Boden und unsere Katzen werden unruhig. Meine Tochter meint lakonisch: „Endzeit-Stimmung“. Ich eile hinaus, will wissen, was los ist. Ohrenbetäubender Lärm dröhnt mir von der Staltigstrasse entgegen. Drei lange Spezialfahrzeuge auf riesigen Stollenpneus halten auf den gelbgrünen Marken, lassen die Erde erbeben und werfen lautstark die Frage auf: Warum weiss ich nichts davon?
Mysteriös! Im drei Wochen alten Mitteilungsblatt lese ich unter „Seismische Messungen der Nagra“, dass Behörden, Bevölkerung und Medien darüber informiert würden. Ich gehöre anscheinend nicht zur Bevölkerung. Am Nagra-Telefon erfahre ich, dass die Anrainer der Messroute per Flugblatt zwei Tage im Voraus informiert worden seien. Betrifft ein Atommüll-Endlager nur die Anrainer?
Christian Ulrich